1. Warum wir über Verletzungsprophylaxe anders sprechen sollten
In vielen Vereinen und Fitnessstudios läuft die Logik etwa so:
„Gib mir die 5 besten Übungen gegen Kreuzbandriss / Rückenschmerzen / Hamstringverletzungen – dann kann ich volle Leistung bringen.“

Das Problem: So funktioniert Verletzungsprophylaxe nach heutigem Kenntnisstand nicht.
Verletzungen sind das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels aus:
- aktueller Belastung und kumulativer Vorbelastung
- Regenerationsstatus (Schlaf, Stress, Mikropausen)
- Technik, Taktik, Umfeld
- individuellem „Verletzungs-Hintergrund“ (Verletzungshistorie, Gewebequalität, Alter, Trainingsalter usw.)
Die sportmedizinische Literatur der letzten 10–15 Jahre zeigt sehr deutlich:
Fehlende oder schlechte Steuerung von Belastung und Regeneration ist ein zentraler, veränderbarer Risikofaktor für Verletzungen – stärker als das Vorhandensein einer bestimmten Übung.
2. Load Management: „How much is too much – and how fast?“
Die zentrale Frage lautet nicht: „Welche Übung?“, sondern:
„Wie viel Belastung, mit welcher Progression, bei welchem Regenerationsstatus?“
2.1. Training Load als modifizierbarer Risikofaktor
Große Reviews und Konsensuspapiere (u. a. International Olympic Committee und British Journal of Sports Medicine) kommen zu folgenden Kernaussagen:
- Training Load (TL) ist ein modifizierbarer Risikofaktor für Verletzungen.
- Spikes – also schnelle, starke Anstiege der Belastung – erhöhen das Risiko deutlich.
- Athlet:innen, die kontinuierlich hohe, aber gut aufgebaute Lasten gewohnt sind, verletzen sich tendenziell seltener (sog. training–injury prevention paradox).
Für die Praxis heißt das:
Nicht hohe Belastung an sich ist das Problem, sondern schlecht gemanagte Belastung.
3. Was genau bedeutet „Belastungsmonitoring“?
Aus der Literatur hat sich die Unterscheidung zwischen externer und interner Last etabliert:
3.1. Externe Last – „Was wurde gemacht?“
Beispiele:
- km, Sprintmeter, Richtungswechsel (GPS / GNSS, Tracking)
- Sätze × Wiederholungen × Last im Krafttraining
- Sprunganzahl, Wurfzahl, Tackles etc.
Diese Größen beschreiben die mechanische Arbeit, aber noch nicht, wie der Körper sie beantwortet.
3.2. Interne Last – „Wie hat der Körper reagiert?“
Beispiele:
- Herzfrequenz und HF-Variabilität
- session RPE (sRPE): subjektive Belastung (0–10) × Dauer
- Laktat, HRex im submaximalen Test, Blutmarker, etc.
Reviews zu Monitoring-Methoden in Leistungs- und Jugendsport betonen, dass sRPE, Herzfrequenz und Trainingsdauer die am häufigsten eingesetzten und pragmatischsten Tools sind.
4. Was moderne Monitoringforschung zeigt
Die Arbeitsgruppe um Wiewelhove, Ferrauti, Schneider, Kellmann u. a. (Ruhr-Universität Bochum) hat in den letzten Jahren wesentlich dazu beigetragen, Regeneration und Belastung multidimensional zu fassen.
4.1. Herzfrequenzbasiertes Monitoring
Schneider et al. stellten ein Konzept zur Herzfrequenzsteuerung im Teamsport vor: Herzfrequenz in standardisierten Belastungen (z. B. Warm-up-Lauf) kann helfen, Fitness, Ermüdung und Anpassungvon Athlet:innen abzuschätzen, insbesondere im Verbund mit subjektiven Daten.
4.2. Neuromuskuläre Marker – nicht alles, was messbar ist, ist hilfreich
Wiewelhove et al. untersuchten, ob Tensiomyographie (TMG) Muskelermüdung bei Nachwuchsleistungssportler:innen zuverlässig abbilden kann. Ergebnis: Trotz klarer Leistungsreduktion in Sprungtests waren TMG-Parameter nicht sensitiv genug, um Ermüdung valide zu erkennen.
Interpretation:
Aufwendige Hightech-Parameter sind nicht automatisch bessere Frühwarnsysteme.
Oft liefern einfache Tools (CMJ, sRPE, kurzer Fragebogen) mehr praktisch nutzbare Information.
4.3. Schlaf und Microcycles
Kölling et al. zeigen, dass intensive Mikrozyklen (z. B. exzentrisches Krafttraining oder HIIT über mehrere Tage) Schlafqualität, Stimmung und subjektiven Erholungszustand beeinflussen – und dass diese Marker als Frühwarnsignale für Überlastung dienen können.
5. Regenerationsmanagement: Die „andere Hälfte“ der Verletzungsprophylaxe
Belastung ohne Regeneration ist nur die halbe Gleichung. Moderne Reviews zu Erholung in Team- und Ausdauersportarten zeigen:
- Es gibt kein einzelnes Recovery-Tool, das allen überlegen ist.
- Entscheidend ist ein System aus:
- Schlafqualität und -dauer
- Periodisierung von intensiven und leichten Tagen
- Aktiver Erholung
- ggf. Kälte, Kompression, Massage – abhängig von Sportart, Timing, Athlet:in
- Recovery-Strategien müssen individualisiert und an Belastung gekoppelt werden.
Die Botschaft aus aktuellen Arbeiten (z. B. Henze et al. 2024): Subjektives Wohlbefinden + Belastungsdaten sind gemeinsam oft bessere Prädiktoren für Verletzungs- und Krankheitsrisiko als isolierte Einzelmarker.
6. Warum es nicht „die besten Übungen zur Verletzungsvorbeugung“ gibt
6.1. Verletzungen sind multifaktoriell
Systematische Reviews zu Training Load und Verletzung zeigen:
Der Zusammenhang zwischen einzelnen Belastungsmaßen und Verletzungen ist inkonsistent, weil viele konfundierende Faktoren (Schlaf, Stress, frühere Verletzungen, Technik, Untergrund, Spielposition usw.) mit hineinspielen.
Das bedeutet: Eine Übung allein kann dieses komplexe Gefüge nicht „neutralisieren“.
6.2. Das eigentliche Problem:
Ein „Mismatch“ zwischen Kapazität und Anforderung
Die IOC-Statements und Arbeiten von Gabbett betonen immer wieder: Verletzungen entstehen typischerweise dort, wo Anforderung (Load) höher ist als die aktuelle Kapazität – insbesondere, wenn sich die Anforderung zu schnell verändert.
- Zwei Athlet:innen mit identischem Übungskatalog können völlig unterschiedliche Verletzungsverläufe haben – je nachdem,
- wie ihre Trainingswoche strukturiert ist,
- welche Spiele / Wettkämpfe anstehen,
- wie sie schlafen,
- welche Lebensbelastungen (Job, Familie, Reisen) vorliegen.
6.3. Implementierung schlägt Übungsauswahl
Aktuelle Scoping Reviews zur Implementierung von Präventionsprogrammen zeigen:
Adhärenz, Trainerakzeptanz und Einbettung ins Gesamtsystem entscheiden stärker über den Erfolg von Präventionsprogrammen als die exakte Übungsliste.
Mit anderen Worten:
Ein „mittelgutes“ Übungsprogramm, das konsequent und sinnvoll in einen guten Load- und Recovery-Planeingebettet ist,wirkt wahrscheinlicher verletzungspräventiv als ein „perfektes“ Programm, das unregelmäßig, unpassend dosiert oder unter Zeitdruck hineingequetscht wird.
7. Wie sieht effektive Prävention in der Praxis aus?
Für Praxis, Verein oder Leistungsdiagnostik lassen sich einige robuste Prinzipien ableiten:
7.1. Monitoring als Basis
Mindestens wöchentlich erheben:
- Externe Last
- Trainingsumfang (Dauer, km, Sätze × Wiederholungen × Last, Sprung- oder Wurfanzahl)
- Interne Last
- sRPE × Dauer (Belastung pro Einheit und pro Woche)
- Subjektive Marker
- Einfacher Fragebogen (z. B. Schlafqualität, Müdigkeit, Muskelkater, Stress, Stimmung 1–7)
- Ein bis zwei objektive Performance-Marker
- z. B. 1–2 Sprünge (CMJ) oder kurze Sprinttests in standardisiertem Warm-up
Damit lässt sich:
- Überblick über Wochenlasten gewinnen
- Spikes identifizieren
- sehen, wie Athlet:innen auf Last reagieren (z. B. CMJ↓ + Müdigkeit↑ + Schlaf↓ = Warnsignal)
7.2. Regenerationsmanagement systematisch planen
- Ruhe- und Entlastungstage bewusst setzen, nicht „irgendwo, wenn Zeit ist“.
- Intensivblöcke mit konsequenter Entlastungsphase koppeln (Mikro-/Mesozyklus-Logik).
- Schlaf (Dauer + Regelmäßigkeit) als zentralen Regenerationsfaktor priorisieren.
- Recovery-Tools (Kälte, Kompression, Massage) nicht als Ersatz für Laststeuerung einsetzen, sondern als Ergänzung.
7.3. Übungen: sinnvoll, aber eingebettet
Krafttraining, Sprung- und Technikprogramme bleiben wichtig, z. B.:
- hamstringorientierte Übungen
- hüftdominante und kniedominante Kraftübungen
- Rumpf- und Beckenstabilisation
- sportartspezifische Landungs- und Richtungswechseltechnik
Aber:
Diese Übungen entfalten ihren präventiven Nutzen vor allem dann, wenn sie in ein stimmiges Gesamtbild aus Lastaufbau, Monitoring und Regeneration integriert sind – und nicht als isolierte „Wunderübung“ verstanden werden.
8. Zusammenfassung in einem Satz
Die beste Verletzungsprophylaxe ist kein spezieller Übungskatalog, sondern ein System aus gezieltem Belastungsmonitoring, klugem Lastaufbau und strukturiertem Regenerationsmanagement – Übungen sind Werkzeuge, nicht die Lösung an sich.
Quellen:
Belastungsmonitoring, Training Load & Verletzungsrisiko
Bourdon, P. C., Cardinale, M., Murray, A., Gastin, P., Kellmann, M., Varley, M. C., Gabbett, T. J., Coutts, A. J., Burgess, D., Gregson, W., & Cable, N. T. (2017). Monitoring athlete training loads: Consensus statement. International Journal of Sports Physiology and Performance, 12(Suppl. 2), S2161–S21670.
Gabbett, T. J. (2016). The training–injury prevention paradox: Should athletes be training smarter and harder? British Journal of Sports Medicine, 50(5), 273–280.
Hulin, B. T., Gabbett, T. J., Lawson, D., Caputi, P., & Sampson, J. A. (2016). The acute:chronic workload ratio predicts injury: High chronic workload may decrease injury risk in elite rugby league players. British Journal of Sports Medicine, 50(4), 231–236.
Soligard, T., Schwellnus, M., Alonso, J.-M., Bahr, R., Clarsen, B., Dijkstra, H. P., Gabbett, T., Gleeson, M., Hägglund, M., Hutchinson, M. R., van Rensburg, C. J., Khan, K. M., Meeusen, R., Orchard, J. W., Pluim, B., Raftery, M., Budgett, R., & Engebretsen, L. (2016). How much is too much? (Part 1) International Olympic Committee consensus statement on load in sport and risk of injury. British Journal of Sports Medicine, 50(17), 1030–1041.
Belastungsmonitoring – Herzfrequenz, sRPE, interne/externe Last
Impellizzeri, F. M., Marcora, S. M., & Coutts, A. J. (2019). Internal and external training load: 15 years on.International Journal of Sports Physiology and Performance, 14(2), 270–273.
Schneider, C., Hanakam, F., Wiewelhove, T., Döweling, A., Kellmann, M., Meyer, T., Pfeiffer, M., & Ferrauti, A. (2018). Heart rate monitoring in team sports—A conceptual framework for contextualizing heart rate measures for training load quantification. Sports, 6(1), 5.
Neuromuskuläre Ermüdung, Monitoring-Methoden & Sensitivität
Wiewelhove, T., Raeder, C., de Paula Simola, R. Á., Schneider, C., Döweling, A., Häberle, K., Kellmann, M., Pfeiffer, M., & Ferrauti, A. (2017). Tensiomyography does not detect changes in muscle contractile properties following cycling-induced fatigue in elite youth athletes. Applied Physiology, Nutrition, and Metabolism, 42(6), 630–636.
Kölling, S., Ferrauti, A., Kibele, A., Meyer, T., Pfeiffer, M., Kellmann, M., & Wiewelhove, T. (2020). Sleep, training load and recovery in youth sports: A systematic review. International Journal of Sports Physiology and Performance, 15(7), 985–1000.
Regeneration & Erholung
Dupuy, O., Douzi, W., Theurot, D., Bosquet, L., & Dugué, B. (2018). An evidence-based approach for choosing post-exercise recovery techniques to reduce markers of muscle damage, soreness, fatigue, and inflammation: A systematic review and meta-analysis. Frontiers in Physiology, 9, 403.
Henze, A., Kellmann, M., & Beckmann, J. (2024). Subjective well-being and training load interactions as predictors of injury and illness in athletes: A systematic review. Sports Medicine, 54(2), 205–223.
Fachbuchempfehlung:
Ferrauti, A. and Wiewelhove, T. (2025) Trainingswissenschaft für die Sportpraxis. 2nd Edt.

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