🔎 Segmentale Instabilität der LWS – Wenn der Rücken schmerzt, das MRT aber unauffällig bleibt!
Viele Patient:innen erleben Rückenschmerzen, die sich nicht an übliche Regeln halten. Zum Beispiel sind sie längere Zeit komplett weg aber bei schnellen Drehbewegungen oder ruckartigen Bewegungen „schiesst es ein“ – doch das Röntgenbild zeigt keine Auffälligkeiten?
Das kann an einer funktionellen Instabilität der Lendenwirbelsäule liegen.
Was passiert dabei?
👉 Die feinen, tiefen Muskeln der Wirbelsäule stabilisieren das Segment nicht optimal.
👉 Schnelle oder unerwartete Bewegungen (z. B. Rotationen) können dann zu kleinen, aber schmerzhaften Irritationen führen.
👉 Reizbare Strukturen sind vor allem Gelenkkapseln, Bänder und Bandscheibenringe.
Warum sieht man das nicht im MRT?
🔬 Hier liegt keine strukturelle Verletzung vor – die Problematik ist funktionell und betrifft die Feinabstimmung der Muskelkontrolle. Moderne Forschung (z. B. Panjabi 1992, Hodges & Richardson 1996) belegt, dass gestörte motorische Kontrolle auch ohne sichtbare Schäden Schmerzen auslösen kann.
Wir wollen hier etwas tiefer einsteigen und versuchen die Mechanismen zu erklären, die zu Schmerzentstehung und Enstehung der Probleme führen können.
1. Begriff und korrekte pathomechanische Definition
Funktionelle Instabilität bezeichnet eine Störung der aktiven und/oder passiven Kontrolle eines Bewegungssegments der Wirbelsäule, die zu übermäßigen, unkontrollierten Bewegungen im physiologischen Bewegungsbereich (Neutralzone) führt, ohne dass strukturelle Läsionen im bildgebenden Verfahren nachweisbar sind.
Diese Instabilität manifestiert sich primär auf funktioneller Ebene, d. h. als Verlust der segmentalen Bewegungssteuerungbei klinischer Provokation, ohne makroskopisch fassbare Schädigung von Bändern, Gelenken oder Knochen.
(Panjabi MM, 1992; O’Sullivan PB, 2000; Hodges PW & Richardson CA, 1996)
Pathomechanik
Nach Panjabi (1992, 2003) basiert die spinale Stabilität auf einem Dreischichtenmodell:
- Passives System: Wirbelkörper, Bandscheiben, Bänder, Gelenkkapseln
- Aktives System: Tiefen- und Oberflächenmuskulatur
- Neurales System: Propriozeptives Feedback und zentrale Steuerung
Funktionelle Instabilität entsteht, wenn eine oder mehrere dieser Komponenten im Bereich der Neutralzone nicht adäquat zusammenarbeiten, sodass es zu einer mikroskopisch erhöhten segmentalen Beweglichkeit mit inadäquater Kontrolle kommt. Das Resultat sind wiederkehrende Mikrotraumen, irritierte Nozizeptoren und letztlich Schmerzen oder muskuläre Schutzreaktionen.
2. Mögliche Entstehungsgründe (Ätiologie)
A. Motorisches Kontrolldefizit
- Unzureichende oder verspätete Aktivierung der tiefen, lokalen Stabilisatoren (z. B. M. multifidus, M. transversus abdominis), was zu einer fehlerhaften Kontrolle der Wirbelsegmente führt.
- Ursache: Inaktivität, Schmerzerfahrung, vorangegangene Verletzungen, neurologische Defizite.
- Evidenz: Hodges & Richardson (1996), Cholewicki & McGill (1996)
B. Fehlende Adaptation nach Verletzung
- Nach akuten Verletzungen (z. B. Distorsionen, Muskelzerrungen) kann die neuronale Ansteuerung der Stabilisatoren beeinträchtigt bleiben, auch wenn die Strukturen an sich wieder intakt sind.
- Das Segment „lernt“ die Instabilität als Schutzverhalten.
C. Chronische Überlastung / Mikrotraumata
- Wiederholte Überlastung, v. a. in End- oder Neutralstellung (z. B. monotone Arbeit, schweres Heben, wiederholte Rotationsbelastungen), kann zu Überdehnung der passiven Strukturen führen.
- Überdehnte Bänder und Kapseln verlieren ihre mechanische Rückmeldung und tragen weniger zur segmentalen Führung bei.
D. Inaktive oder schwache Muskulatur
- Durch Inaktivität, Immobilisation, postoperative Schonung oder chronischen Schmerz entwickelt sich eine Atrophie und Koordinationsstörung der lokalen Stabilisatoren.
- Folge: Verlust der reflektorischen und willkürlichen Kontrolle.
E. Fehlregulation des neuralen Systems
- Gestörtes Zusammenspiel von Propriozeption und motorischer Antwort (gestörte Feedforward/Feedback-Mechanismen), häufig auch zentral bedingt (Pain-Adaption-Modell).
- Schmerzhafte Erfahrungen führen zu „Umorganisation“ der Steuerung (z. B. cortical mapping changes; siehe Tsao et al., 2011).
Vorsicht! Jetzt wird es komplizierter. Wie kommt es nun zu Schmerzen dabei?
1. Nozizeption: Primäre Schmerzquelle
Nozizeption bezeichnet die Aufnahme und Weiterleitung potenziell schädlicher (noxischer) Reize über spezialisierte Nervenendigungen, die sog. Nozizeptoren. In der LWS sind nozizeptive Strukturen vor allem:
- Facettengelenke und deren Kapseln
- Bandstrukturen (Ligamenta interspinalia, supraspinalia, flavum, intertransversaria)
- Annulus fibrosus der Bandscheibe
- Paraspinale Muskulatur und deren Faszien
(Bogduk N, 2012; Freynhagen & Baron, 2009)
2. Pathophysiologischer Mechanismus bei segmentaler Instabilität
A. Mechanische Mikro-Irritation
- Bei funktioneller Instabilität versagen die aktiven Stabilisatoren (insbesondere M. multifidus, M. transversus abdominis), was zu einer erhöhten Beweglichkeit im betroffenen Segment führt (Hodges & Richardson, 1996; Panjabi, 2003).
- Schnelle Rotationsbewegungen bewirken eine abrupte, unkontrollierte Verschiebung, wodurch mechanische Dehnungs- und Scherkräfte auf die passiven Strukturen einwirken.
- Dadurch werden Nozizeptoren in Gelenkkapsel, Bändern und Bandscheibenring aktiviert, obwohl keine makroskopisch sichtbare Läsion besteht (Bogduk, 2012).
B. Periphere Sensibilisierung
- Durch wiederholte Mikrotraumatisierung und subklinische Entzündungsprozesse (z. B. lokale Freisetzung von Prostaglandinen, Bradykinin, Substanz P) sinkt die Reizschwelle der Nozizeptoren, sodass bereits normale Bewegungen als schmerzhaft empfunden werden (Latremoliere & Woolf, 2009).
3. Weiterleitung und Verarbeitung des Schmerzes
A. Übertragung
- Die afferenten Fasern (Aδ- und C-Fasern) leiten die Information aus den betroffenen Strukturen ins Rückenmark, Segmenthöhe L1–S1.
- Im Hinterhorn erfolgt die Umschaltung auf das 2. Neuron und Weiterleitung über Tractus spinothalamicus zum Thalamus und Kortex.
B. Zentrale Sensibilisierung
- Chronische Instabilität kann eine zentrale Sensibilisierung fördern, wobei das Rückenmark und supraspinale Strukturen verstärkt auf eingehende Signale reagieren. Dies führt zur Ausweitung des Schmerzes und zu einer „Überempfindlichkeit“ auch ohne akute Gewebeschädigung (Woolf, 2011).
4. Modulierende Faktoren
- Psychosoziale Einflüsse (z. B. Angst, Katastrophisierung) können die Schmerzwahrnehmung zusätzlich verstärken („yellow flags“; Vlaeyen & Linton, 2012).
- Eine gestörte propriozeptive Rückmeldung aus den Tiefensensoren führt zu weiterer Unsicherheit und Schutzspannung, was den circulus vitiosus aufrechterhält.
5. Fazit
Schmerzen bei segmentaler Instabilität der LWS ohne radiologischen Nachweis entstehen durch:
- wiederholte mechanische Mikro-Irritation nozizeptiver Strukturen,
- daraus resultierende periphere und zentrale Sensibilisierung,
- verstärkte Schmerzmodulation durch psychosoziale Faktoren,
- bei fehlender struktureller Läsion und intaktem MRT.
Was hilft?
1. Gezieltes Training der tiefen Rumpfmuskulatur („Core Stability Training“)
- Ziel: Verbesserung der segmentalen Kontrolle durch Aktivierung und Koordination insbesondere des M. multifidus und M. transversus abdominis.
- Belege: Mehrere RCTs und Metaanalysen belegen die Wirksamkeit solcher Programme bei chronischem unspezifischem LWS-Schmerz und Instabilitätszeichen (Smith et al., 2014; Hides et al., 2001).
- Praktische Umsetzung:
- Isoliertes Training im ersten Schritt (z. B. aktiviertes Anspannen des M. transversus abdominis in neutraler Position)
- Sukzessive Einbindung in funktionelle Alltags- und Belastungssituationen
- Progression zu dynamischen Stabilisationsübungen
2. Motorisches Kontrolltraining (MCT)
- Ziel: Wiederherstellung einer physiologischen Bewegungssteuerung durch gezieltes sensomotorisches Re-Training (z. B. retraining of feedforward and feedback mechanisms).
- Belege: RCTs zeigen bessere Outcomes bei ausgewählten Patienten mit klinischen Zeichen funktioneller Instabilität (O’Sullivan et al., 1997; Saragiotto et al., 2016).
- Elemente:
- Verbesserung der Propriozeption
- Schulung gezielter Aktivierung der lokalen Stabilisatoren vor globalen Bewegungen
- Transfer in Alltag und Sport
3. Funktionelles Krafttraining / globales Stabilisationstraining
- Nach dem motorischen Basistraining sollte ein schrittweiser Übergang in globales Krafttraining erfolgen (Kettlebell-Übungen, freie Gewichte, mehrgelenkige Bewegungen).
- Beleg: Kombination von lokalem und globalem Stabilisationstraining ist langfristig effektiver als entweder allein (Rackwitz et al., 2006; Wang et al., 2012).
4. Patientenedukation und Eigenmanagement
- Ziel: Verständnis für das Krankheitsbild und Förderung von Aktivität/Bewegung, Vermeidung von Schon- und Vermeidungsverhalten.
- Beleg: Patientenedukation reduziert Chronifizierungsrisiko und verbessert Therapieadhärenz (Engers et al., 2008).
5. Manuelle Therapie (nur unterstützend)
- Mobilisationstechniken können sinnvoll zur Schmerzlinderung und kurzfristigen Funktionsverbesserung eingesetzt werden, sind aber kein Ersatz für aktives Training (Oliveira et al., 2018).
6. Multimodale Therapie
- Die Kombination aus aktiver Therapie, Edukation und (falls notwendig) psychologischen Verfahren (CBT, Schmerzbewältigungstraining) ist laut internationalen Leitlinien am effektivsten für chronisch persistierende Beschwerden (NICE 2020, van Middelkoop et al., 2011).
7. Weitere Optionen (je nach Patient)
Invasive Verfahren: (z. B. Infiltration, Denervierung) sind bei funktioneller Instabilität ohne strukturelle Läsion nicht indiziert.
Biofeedback und Elektrostimulation: Teilweise hilfreich zur muskulären Aktivierung, aber der Nutzen ist nicht eindeutig belegt.
Fazit:
Nicht jeder Rückenschmerz hat eine sichtbare Ursache – die Funktion zählt!
Literatur/Quellen
- Bogduk N. (2012). Clinical Anatomy of the Lumbar Spine and Sacrum. Elsevier.
- Hodges PW, Richardson CA. (1996). Inefficient muscular stabilization of the lumbar spine associated with low back pain. Spine.
- Panjabi MM. (2003). Clinical spinal instability and low back pain. J Electromyogr Kinesiol.
- Latremoliere A, Woolf CJ. (2009). Central Sensitization: A Generator of Pain Hypersensitivity by Central Neural Plasticity. J Pain.
- Freynhagen R, Baron R. (2009). The evaluation of neuropathic components in low back pain. Curr Pain Headache Rep.
- Woolf CJ. (2011). Central sensitization: implications for the diagnosis and treatment of pain. Pain.
- Vlaeyen JWS, Linton SJ. (2012). Fear-avoidance and its consequences in chronic musculoskeletal pain: a state of the art. Pain.
- Smith BE, Littlewood C, May S. An update of stabilisation exercises for low back pain: a systematic review with meta-analysis. BMC Musculoskelet Disord. 2014;15:416.
- Hides JA, Richardson CA, Jull GA. Multifidus muscle recovery is not automatic after resolution of acute, first-episode low back pain. Spine. 1996;21(23):2763-2769.
- Saragiotto BT, Maher CG, Yamato TP, et al. Motor control exercise for chronic non-specific low-back pain. Cochrane Database Syst Rev. 2016;(1):CD012004.
- Rackwitz B, de Bie R, Limm H, et al. Segmental stabilizing exercises and low back pain: what is the evidence? A systematic review of randomized controlled trials. Clin Rehabil. 2006;20(7):553-567.
- Wang XQ, Zheng JJ, Yu ZW, et al. A meta-analysis of core stability exercise versus general exercise for chronic low back pain. PLoS ONE. 2012;7(12):e52082.
- O’Sullivan PB, Phyty GD, Twomey LT, Allison GT. Evaluation of specific stabilizing exercise in the treatment of chronic low back pain with radiological diagnosis of spondylolysis or spondylolisthesis. Spine. 1997;22(24):2959-2967.
- Engers A, Jellema P, Wensing M, et al. Individual patient education for low back pain. Cochrane Database Syst Rev. 2008;(1):CD004059.
- NICE Guideline [NG59]: Low back pain and sciatica in over 16s: assessment and management. National Institute for Health and Care Excellence (2020).
- Oliveira CB, Maher CG, Pinto RZ, et al. Clinical practice guidelines for the management of non-specific low back pain in primary care: an updated overview. Eur Spine J. 2018;27(11):2791-2803.
- van Middelkoop M, Rubinstein SM, Verhagen AP, et al. Exercise therapy for chronic nonspecific low-back pain. Best Pract Res Clin Rheumatol. 2010;24(2):193-204.
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